Von unserem Autor Carsten Gensing
Aus dem hohen Norden kommt eine Initiative mit spektakulären Zielen: Ein ehemaliger Gastronom und sein Team arbeiten mit Hochdruck daran, in ihrer Heimat die Vision einer plastikfreien Stadt zu verwirklichen. Die Herangehensweise der Initiative ist so simpel wie vielversprechend: Mit einem Allerwelts-Tool erzielen sie messbare Erfolge, die Strategie lässt sich überall anwenden. Knapp 50 Unternehmen und Städte machen bereits mit. Eine Stadt in Baden-Württemberg, mit der sicher die wenigsten rechnen, ist aktuell sogar auf der Überholspur unterwegs.
Rostock als Vorreiter einer neuen Bewegung
Doch erstmal zurück in den hohen Norden. Dem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wird nachgesagt, manchmal etwas hinterherzuhinken. Der ehemalige Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD, † 81) setzte während seiner Amtszeit im Jahre 2007 ein angebliches Bismarck-Zitat in die Welt. Ringstorff zitierte den Reichskanzler: „Wenn die Welt untergeht, dann ziehe ich nach Mecklenburg, da passiert alles 50 Jahre später.“ Angesichts der Beschaulichkeit an der wunderschönen Mecklenburger Ostseeküste, den schlummernden Dörfern im langgestreckten Land zwischen dem Schaalsee und der Oder wirkt die Aussage von Bismarck glaubhaft. Nur Belege gibt es dafür nicht.
Nun wächst an der idyllischen Ostseeküste etwas heran, womit Otto von Bismarck nicht rechnen konnte – und was in MeckPomm möglicherweise einige Jahre früher als im Rest der Republik Realität werden könnte: Die Vision von der plastikfreien Stadt. Direkt an der Küste, ganz oben im Norden – in Rostock. Dort gründete ein Gastronom die Initiative „Plastikfreie Stadt“.
Am Anfang stehen eine Inventur und eine Excel-Tabelle
Videocall-Meeting mit Samuel Drews (38) und seiner Mitstreiterin Elisabeth Möser (35). Schnell wird klar: Die beiden träumen nicht, sie gestalten die Veränderung bereits – unter Einsatz von Mitteln, die so manch digitaler Nerd als Steinzeit-Werkzeuge abtun würde. Denn statt einer aufwändig programmierten Software mit App-Verlängerung nutzt das Team eine Excel-Tabelle. „Damit starten wir die Inventur“, sagt Samuel, „die steht immer am Anfang.“ Konkret bedeutet das: Die teilnehmenden Partner beginnen damit, alles zu zählen und aufzulisten, was aus Einwegplastik ist – und tragen es in die Excel-Tabelle ein. „Uns geht es vor allem um Einwegplastik, das lässt sich vermeiden“, erklärt Elisabeth.
Kleinste Positionen summieren sich auf unhaltbare Mengen
Die ersten Erkenntnisse kommen schnell. Samuel: „Wir erfassen Einzelpositionen und rechnen diese auf ein Jahresvolumen hoch. Dann kommt die große Erschütterung. Denn auch kleinste Positionen summieren sich auf Volumina, die unhaltbar sind.“ Und weiter: „Wir treffen diese kleinen Quellen überall an. Wir arbeiten uns an der Wertschöpfungskette längs – über den Einkauf, die Produktion, Versorgung der Mitarbeitenden bis hin zur Reinigung. Gemeinsam mit den Unternehmen finden wir so die blinden Flecken.“
Was sind das für Flecken? „Kommt auf die Branche an“, sagt Samuel, „in Büros geht es häufig um die Verköstigung der Mitarbeitenden, in Hotels um Verbrauchsmaterialien wie Seifen, Shampoos und Conditioner.“ Aber auch Kaffeekapseln, die immer noch weit verbreitet sind. „Das Problem wird aber nicht gelöst, wenn wir statt Alukapseln recycelte Kunststoffkapseln nehmen. Damit kreieren wir ein neues Problem. Das muss in eine zirkuläre Richtung gedacht werden“, sagt Elisabeth.
Hotel schafft neue Wege bei der Anlieferung von Waren
Die Unternehmen sind eine von vier Säulen, auf denen die Vision der plastikfreien Stadt steht. „Dort erreichen wir die Menschen, dort arbeiten sie, deshalb gibt es ganz viele Hebel“, sagt Samuel. Ein Beispiel: Das erste Partnerhotel der Initiative spannte alle Management-Ebenen ein, um Einwegplastik-Quellen zu identifizieren. Samuel Drews: „Damit haben wir eine enorme Hebelwirkung erzielt.“ Das Hotel zog auch Konsequenzen: Waren von regionalen Zulieferern werden nicht mehr auf Europaletten und in Plastikfolie eingepackt angeliefert, sondern kommen mit Gurten verschnürt auf Rolltrolleys: „Jede Palette wird mit 400 Gramm Folie eingewrappt. Das fällt jetzt weg.“
Kinder gewinnen auf der Kirmes Bernstein statt Billigplastik
Neben den Unternehmen gibt es drei weitere Säulen, die stehen müssen, um eine Stadt plastikfrei zu machen: die kommunale Verwaltung, die gesetzgebende Politik – und der öffentliche Raum. „Das sind zum Beispiel Veranstaltungen, wie bei uns in Rostock die Hansesail“, erklärt Gründer Drews. Zum Rahmenprogramm des internationalen Segel-Events gehört auch eine Kirmes mit einem Stand der Initiative. Dort können Kinder gezielt Abfälle aus einem Aquarium fischen. Während es anderswo minderwertiges Spielzeug aus Billigplastik als Gewinn gibt, haben sich Elisabeth, Samuel und ihr Team etwas Neues ausgedacht: „Die Kinder können aus einer Schatzkiste mit Bernsteinen, Donnerkeilen und Muscheln ein Teil auswählen.“ Legen sie es zurück ins Aquarium, landet es wieder dort, wo es hingehört – und die Kinder dürfen sich etwas wünschen. Samuel: „Das hat super funktioniert. Und wir haben gespürt, wie wir auch die breite Masse erreichen – ganz besonders die Kinder.“
Auch die kommunale Verwaltung und die Politik müssen mitziehen
Das Engagement der Unternehmen und der Öffentlichkeit allein reicht nicht. Verordnungen und Gesetze zur Vermeidung von Einwegplastik müssen her, so, wie die jetzt eingeführte neue Mehrwegangebots-Pflicht. Hier zeigt sich auch, wer sich wirklich engagiert. Elisabeth: „Da die neue Richtlinie leider nur eine Pflicht ist, den Kund:innen ein Mehrwegangebot zu machen und kleine generelle Mehrwegpflicht besteht, liegt es auch in Zukunft weiterhin an den Kund:innen das Ganze zu einem Erfolg werden zu lassen. Eine konsequente Nachfrage und das Einfordern von Mehrweglösungen ist hierbei spielentscheidend. Die Verordnung greift bei der Definition der Materialien leider aus unserer Sicht auch zu kurz. Ein Wegwerf-Produkt durch ein Wegwerf-Produkt zu ersetzen, ist natürlich nicht die richtige Lösung.“
Das sind die Parameter für eine plastikfreie Stadt
Die Macher:innen der plastikfreien Stadt lassen sich davon nicht entmutigen. Sie haben klare Parameter definiert, ab wann eine Stadt plastikfrei ist. Auf jeweils 100.000 Einwohner müssen 50 Unternehmen Mehrweglösungen anbieten und 25 eine Einwegplastik-Inventur umsetzen. Außerdem wird die Stadtverwaltung involviert und der öffentliche Raum genutzt. In der Heimat der Initiative gibt es dafür u.a. die Kampagne „Mehrweg für Rostock“: Unternehmen aus der Gastronomie bieten Essen und Getränke in Mehrweg-Behältern an. Das wird plakativ beworben.
Mannheim als Überraschungs-Stadt ganz vorn dabei
Aber wer hat denn aktuell in Deutschland die Nase vorn? Neben Rostock, der Mutterstadt der Initiative, ist eine weitere Stadt auf der Überholspur unterwegs, mit der man eher nicht rechnet. Elisabeth: „Mannheim prescht vor. Es gibt eine Plastikvermeidungsstrategie und dort werden mit unserem Inventur-Tool Unternehmen an Bord geholt.“ Könnte gut sein, das lassen Elisabeth und Samuel durchblicken, dass Mannheim ihre Heimatstadt Rostock auf den letzten Metern noch überholt.
Die Idee der plastikfreien Stadt stammt auch von der Küste
Holt Rostock den Titel, wäre das eine kleine Serie: Denn die erste plastikfreie Stadt Europas liegt auch an der Küste – im britischen Cornwall. Penzance heißt der Ort, der bereits seit 2017 plastikfrei ist. Mehr als 125 Restaurants und Läden machen mit, verzichten komplett auf Einwegplastik. „Eine ARD-Doku hat uns damals inspiriert“, erzählt Samuel, „wir haben gleich dort angefragt, aber sie konnten nicht helfen. Sie hatten mehr als 400 Anfragen auf dem Tisch. Also haben wir einfach bei uns angefangen.“ Das war 2019. Vier Jahre später könnte das erste kleine Ziel erreicht werden – eine plastikfreie Stadt in Deutschland.
Mehr zur plastikfreien Stadt findest du auf der Website der Initiative. Außerdem spannend: Start-up entwickelt plastikfreie Kunststoff-Alternative aus Agrarabfällen.
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