Zukunftstechnik oder Klimakiller? Wenn es um Plastik geht, scheiden sich die Geister

Zukunftstechnik oder Klimakiller? Wenn es um Plastik geht, scheiden sich die Geister 1920 768 flustix

DISKUSSION

Von unserem Autoren Carsten Gensing

Niemand möchte Plastik in seinem Garten haben, auch nicht in den Klamotten oder gar im Essen – und erst recht nicht im eigenen Körper. Trotzdem ist das Zeug überall um uns herum und leider auch in uns drin. Plastik ist der Werkstoff, der alles dominiert. Mit dem wir ins Verderben laufen und ohne den wir nicht leben können. Wir brauchen Kunststoffe und doch müssen wir sie verdammen, weil sie sich gnadenlos festsetzen, in mikroskopisch kleinen Fetzen überall hin vordringen und vermutlich nie wieder verschwinden. Alles wäre besser, wenn wir Kunststoffe nur dort einsetzen würden, wo sie wirklich unverzichtbar sind. Das sind immer noch ziemlich viele Bereiche. Aber eben bedeutend weniger als jetzt. Zukunftstechnik oder Klimakiller? Ein Rundflug durch unsere Welt aus Plastik.

Der Zahnarzt wäre ohne Kunststoff zahnlos

Wie sehe es in der Zahnarzt-Praxis aus, wenn es keinen Kunststoff gäbe? Wir würden auf dem Boden sitzen, der Doc mit bloßen Händen, Dentalhaken und Handbohrer im Mund herumfummeln. Kronen würden nicht passen, weil es keine Abdruckmasse gibt.

Noch viel schlimmer wäre es im Krankenhaus. Handschuhe, sterile Einmalspritzen, Blutbeutel, Schläuche, sterile Verpackungen, nahezu alle Gerätschaften – uns würde verdammt viel fehlen. Mechanische Herzklappen, Prothesen, Defibrillatoren, Sauerstoffmasken, Gehhilfen und Rollstühle werden teilweise oder auch komplett aus Kunststoff hergestellt. Niemand, der betroffen ist und medizinische Hilfe oder Gerät benötigt, würde darauf verzichten wollen. Verständlich.

Trotzdem sorgt auch die Medizin für unvorstellbare Mengen an Plastikmüll. Erste Start-ups tüfteln an Lösungen, z.B. sterile Verpackungen für OP-Geschirr aus Spezial-Stoffen, die wiederverwendbar sind und es sogar mit Skalpellen aufnehmen können.

Mobilität ohne Plastik? Es bliebe nur der Drahtesel – ohne Reifen

Als ich (Baujahr 1969) noch klein war, gab es das noch: Fahrräder, die nahezu kunststofffrei gefertigt wurden. Pedalen aus Metall, Griffe aus Leder gewickelt, aber halt… die Reifen! Tja, auch da wurde schon früh Kunststoff eingesetzt. So ein monsterschweres Metallungetüm wäre heute ein fetter Bremsklotz für die Mobilitätswende.

Steigen wir vom Rad ins Raumschiff. Der World Wild Fund For Nature (WWF) urteilt dazu in seiner Analyse zum Thema: „In der Luft- und Raumfahrtindustrie müssen die verwendeten Materialien leicht sein, extremen Temperaturen standhalten, Treibstoffe und Chemikalien aushalten und korrosionsbeständig sein.“ Auch in Zügen und Schiffen komme Kunststoff zum Einsatz. „Vorteil der Kunststoffe hier: Flexibilität und Langlebigkeit. Kunststoff muss seltener gewartet werden als andere Materialien, rostet nicht und kann ständige Vibrationen aushalten. Grundsätzlich kann durch den Einsatz des leichten Materials bei Fortbewegungsmitteln jeglicher Art Kraftstoff gespart und somit weniger CO2 ausgestoßen werden.“ Die sehr differenzierte Betrachtung in diesem WWF-Beitrag dokumentiert die Ambivalenz der Diskussion: In anderen Kampagnen (u.a. “Schnauze voll”) macht der WWF gegen jedwede Verwendung von Kunststoff mobil.

Von wegen Leder – auch bei König Fußball regiert Plastik

Sportarten, die ohne Kunststoff nicht oder nur schwer möglich wären: Badminton, Baseball, American Football, Golf, Surfen, Inline-Skaten, sämtliche Radsportarten, Rudern, Skifahren, Squash, Tauchen, Tischtennis und viele weitere, bei denen Spielgeräte aus Kunststoff unverzichtbar sind. Auch bei den meisten Ballsportarten geht nichts ohne Kunststoff.

Sogar beim Volkssport Fußball gehört Plastik auf den Platz: Zwar wird der Ball heute noch umgangssprachlich „das Leder“ genannt. Tierhäute jedoch haben in modernen Bällen gar nichts mehr verloren. Die offiziellen Spielbälle der Profiligen sowie der großen EM- und WM-Turniere sind aus aufwendig produzierten synthetischen Verbundstoffen.

Im Kinderzimmer überlebt hochwertiger Kunststoff mehrere Generationen

„Mit diesen Legosteinen hat schon dein Papa gespielt“, ist ein häufig gehörter Satz im Kinderzimmer. Hersteller wie Lego oder Playmobil verwerten hochwertige und schadstoffarme Kunststoffe, die mitunter Generationen überstehen und nahezu unverwüstlich sind. Bei diesen sogenannten Systemspielzeugen gibt es auch keine Probleme mit der Entsorgung: 97 Prozent der Menschen, die Lego besitzen, geben die Steine weiter – oder behalten sie selbst. Im Müll landet nahezu nichts.

Ohne Kunststoff hätten wir Dosen-Telefone statt Smartphones

Klar, die moderne Kommunikation ist kunststoffbasiert, ein wahres Plastik-Paradies, hier ist ja gefühlt nun wirklich alles aus synthetisch erzeugten Polymeren. Das muss man nicht schön finden, aber umso wichtiger ist es, bei elektronischen Geräten darauf zu achten, dass sie fachgerecht entsorgt werden. Wieder so eine Geschichte aus der Jugend: Als ich klein war, telefonierten wir mit Dosen-Telefonen. Wobei ich nicht sicher bin, ob die Schnur zwischen den Konserven auch wirklich plastikfrei war.

Die Liste lässt sich fortsetzen. Auch die Bauindustrie benötigt Kunststoffe. Wie sollten wir unsere Häuser dämmen? Wie würde es durch die Fenster pfeifen? Also kann das Fazit nur lauten: Plastik ist eine Zukunftstechnologie. Oder? Leider zu einfach. Denn mit Kunststoffen wird gewaltig Irrsinn betrieben. Und für den sind wir alle mitverantwortlich. Auch darauf wollen wir einen Blick werfen.

Klimakiller: Einweg-Produkte, die nach wenigen Minuten im Müll landen

Die Wegwerf-Mentalität, mit der die meisten von uns ausgestattet sind, vergiftet unsere Umwelt und heizt das Klima an. Wusstet ihr eigentlich, wer die Einweg-Plastikflasche erfunden hat? Gar nicht so schwer zu erraten. Ja, es war Coca-Cola. „1978 führte Coca-Cola die Einweg-PET-Flasche als Ersatz für die Kultflasche aus Glas ein. Dieser Schritt markiert den Beginn einer neuen Ära“, so steht es im Plastik-Atlas der Böll-Stiftung und des BUND. Seitdem wird Einweg-Plastik in unvorstellbaren Mengen produziert.

Der Atlas liefert ein Beispiel für diesen Wahnsinn: 88 Milliarden Einweg-Plastikflaschen produziert Coca-Cola jährlich – und ist damit Weltmarktführer beim Verpackungsmüll. Reiht man die 88 Milliarden Flaschen aneinander, reicht das, um eine Pipeline 31 Mal von der Erde zum Mond und wieder zurück zu verlegen. Das Problem: Die Flaschen bleiben auf der Erde, sie werden immer mehr und ein Ende ist nicht absehbar. Ein schwacher Trost: In Deutschland haben wir zumindest ein Einwegpfand-System, das ist aber angesichts der globalen Menge ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotzdem wollen wir das System natürlich behalten (oder besser: ausbauen). Was flustix-Gründer Malte Biss, ein ausgewiesener Kunststoff-Spezi, zu dem Thema denkt, lest ihr hier.

Am Körper tragen wir Plastik ohne Sinn und Verstand

„Textilien aus synthetischen Fasern haben auf den ersten Blick viele Vorzüge: Sie sind günstig, trocknen schnell und passen sich dem Körper an“, schreiben die größten Kunststoff-Kritiker der Böll-Stiftung im Plastik-Atlas. Problem: Textilien sind in unserer Gesellschaft zu Wegwerf-Artikeln verkommen. Neue Designs im Wochen-Rhythmus (Fast-Fashion-Labels arbeiten mit bis zu 50 Zyklen im Jahr) und Billig-Klamotten, die nach wenigen Wäschen ihre Form verlieren – die Textilindustrie profitiert und sorgt mit Spottpreisen für niedrige Hemmschwellen, sich schnell mal eine neue Kollektion zu bestellen. Polyester, Polyamid, Acryl und Nylon stecken in unseren Kleidern und wir scheren uns nicht darum, dass bei jedem Waschgang Millionen von Mikrofasern ins Abwasser gelangen. Ganz klar: Hier wird Plastik zum Klimakiller. Was man tun kann? Das steht hier.

Der Alleskiller: Mikroplastik

Als wäre das nicht genug, kommt nun auch noch der Alleskiller dazu: Mikroplastik. Es entsteht aus zersetzten Plastikabfällen, Plastiktüten, Textilfasern, durch Reifenabrieb (hier lest ihr von einem Staubsauger, der den Reifenabrieb wieder einsammelt), außerdem steckt es in Kosmetika und Hygiene-Artikeln. Bei den letzten Kategorien geht es meist um sogenanntes primäres Mikroplastik. Bedeutet: Das Zeug wird absichtlich und in rauen Mengen hergestellt und in Umlauf gebracht, z.B. als Peeling in Gesichtscremes oder in Waschmitteln.

Die katastrophalen Folgen sind bekannt: Keine Sperre, kein Sieb und kein Netz kann Mikroplastik stoppen, es gelangt überall hin, in Meere, Menschen, Tiere, in die allerentlegensten Ecken unserer Erde. In einer aktuell veröffentlichten Studie fand ein italienisches Forscherteam in 26 von 34 Muttermilchproben von gesunden Müttern Spuren von Mikroplastik. Besorgniserregend: Weil kein Zusammenhang zur Ernährungsweise der Frauen festgestellt werden konnte, gehen die Forscher:innen davon aus, dass das Vorkommen von Mikroplastik in der Umwelt der Grund für die Belastung ist.

Wenn wir die Mikroplastik-Lawine nicht aufhalten, sieht es richtig düster aus. Deshalb liegt es auch an uns, auf Einweg-Produkte und bestimmte Artikel, die überflüssigerweise Kunststoffe enthalten, zu verzichten. Wer etwas dagegen tun will, kann zuhause damit anfangen. Meine Kollegin Ulrike Seidel hat für flustix feste Seifen, Shampoos und Spülmittel getestet.

Wie lautet denn nun das Fazit? Klimakiller oder Zukunftstechnologie?

Malte Biss, flustix-Gründer, sagt: „Wir brauchen Kunststoffe, sie können uns helfen, das Klima zu schützen. Die Frage ist, wie und wo sie eingesetzt werden. Das muss überall dort der Fall sein, wo sie mehr Vor- als Nachteile bringen. Die Beispiele zeigen: Für den langlebigen Einsatz, wie z.B. bei medizinischen Geräten, ist dieser geniale Werkstoff unverzichtbar. Einweg-Verpackungen aus frischem Plastik hingegen sind Klimakiller, da müssen wir hin zu Mehrweg- und Recycling-Lösungen.” Außerdem, so Biss, brauchen wir mehr Nachhaltigkeit in der Wertschöpfungskette: „Schon bei der Herstellung von Kunststoffen muss die Wiederverwertung eingeplant sein. Plastik darf nicht als Wegwerf-Produkt produziert werden.”

Auch Umweltschutz-Organisation fordert mehr Kreisläufe

Diesem Urteil schließt sich auch der WWF an. „Das Lebensende der Produkte muss mitgedacht werden. Egal in welchem Bereich Materialien eingesetzt werden, sie sollten möglichst lange halten und danach entweder für ein vergleichbares Produkt oder ein anderes Produkt recycelt werden.“

Wie kann flustix hier helfen? Die Organisation kennzeichnet Waren, Verpackungen und Rohstoffe, die plastikfrei sind oder anteilig aus recycelten Materialien bestehen. Zudem prüft und zertifiziert flustix die Recyclingfähigkeit von Verpackungen. Produkte, die das Siegel mit dem Fisch erhalten, werden unabhängig überprüft und nach international anerkannten Verfahren lizenziert. Mehr dazu lest ihr hier.

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